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"Chockwirkungen"

Martina Sauer • Nov. 13, 2023
Zum Sinn des Unsinns im Werk Marcel Duchamps im Anschluss an den Philosophen Walter Benjamin

Es ist die aktuelle Ausstellung in der Collection Peggy Guggenheim über Marcel Duchamp e la seduzione della copia (Aufruf per klick) in Venedig, in der die Verbindung zwischen dem bekannten Provokateur des DADA Duchamp und der Sammlerin sowie indirekt auch zu dem sozialkritischen Philosophen der Frankfurter Schule Walter Benjamin zum Thema wird. Der Kritiker Willi Winkler hat sie in der Süddeutschen Zeitung am 28.10.2023 besprochen und wurde so für mich zum Auslöser zu einigen vertiefenden Bemerkungen.


Um die verrückten Provokationen – bis heute – sei es des Flaschentrockners von 1914 oder des Pissoirs von 1917 von Marcel Duchamp besser zu verstehen, muss der Blick zurück zur Situation in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts gerichtet werden. Die künstlerische Szene war aufgeheizt. Strömungen des Expressionismus, des Kubismus und Futurismus trafen aufeinander. Schließlich ist es der I. Weltkrieg, der eine ganz neue Bewegung hervorbringt, und die Rolle der Künste in den bis dahin bestehenden, von Monarchie und Großbürgertum getragenen Strukturen vehement infrage stellt: DADA. Nicht umsonst im neutralen Zürich, im so genannten Cabaret Voltaire, inszenierte die Bewegung seit 1916 den Nonsens.


Einer der bedeutendsten Protagonisten ist der Franzose Marcel Duchamp, der in enger Verbindung mit der Sammlerin der berühmten Guggenheim Dynastie Peggy stand und ab 1918 mit anderen die Weichen für DADA New York stellte. Es ist schließlich der für seine sozialkritischen Beiträge bekannte Philosoph der so genannten Frankfurter Schule Walter Benjamin, der das Potential der neuen Bewegung erkannte und in den 30er Jahren in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Aufruf per klick) herausarbeitete. Es sind nach seiner Auffassung gerade die Provokationen und „Chockwirkungen“ des DADA und ergänzend des Films, die die notwendigen Veränderungen anstoßen können. Sie können das Publikum aufwecken und dazu beitragen, sich von den althergebrachten gesellschaftlichen Strukturen und der Gewohnheit der Menschen, sich ihnen zu fügen, zu emanzipieren.


Wie hoch Benjamin das Potential DADAs einschätzte, zeigen seinen Anmerkungen dazu. Denn nach ihm ermöglichen deren Vertreter durch die Provokation „zum ersten Mal in der Weltgeschichte“, sich von der sogenannten Aura des Kunstwerks frei zu machen. Denn erst der Schock oder Bruch mit dem Werk erlaube es jedem und jeder, sich vom „parasitären Daseins am Ritual“, dem das Kunstwerk verpflichtet sei, zu befreien (7, zitiert nach der dritten autorisierten Fassung von 1939). Erst durch die Distanz, die der Schock auslöst, könne das Publikum die Haltung eines Begutachters einnehmen (24). Der über die Provokation ausgelöste Verlust der Aura und damit dessen Anspruch auf Echtheit und schließlich Wahrhaftigkeit, auf der die Autorität der Kunst aufbaue, führe zu einer „Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“ (5). Kunst steht damit nach Benjamin schon immer im Zusammenhang mit der Tradition und den Werten einer Gesellschaft. Sie ist deren Vermittlerin. Gerade die Banalität und die Reproduktionsfähigkeit bzw. Serialität, die Duchamp etwa mit dem Flaschentrockner und dem Pissoir betonte, trägt so gesehen par excellence zur Zertrümmerung der Aura und damit von deren inhärenten Werten bei.


Hier stellt sich natürlich sofort die Frage, warum sollte Kunst sozial kritisch gegenüber den in den Werken vermittelten Werten sein? Warum der Protest gegen jedes Etablierte, Althergebrachte, Vertraute und sogar gegen das Werk eines als Genie anerkannten Künstlers wir Leonardo da Vinci? Duchamps Schnurbart, den er der Mona Lisa 1919 anlässlich des Hypes um den Künstler zu dessen 400. Todestags verpasste, spricht davon Bände. Gerade in diesem Beispiel geht es, wie es Benjamin nicht hätte deutlicher sagen können, um das Lächerlich machen der devoten Haltung des Betrachters gegenüber dem Kunstwerk und dessen Aura. Auf einer weiteren Ebene wird damit auch die Rolle der Künstler selbst infrage gestellt. Es geht um die Kritik an der dienenden Rolle der Künstler bzw. um deren Aufgabe, den etablierten Politiken der Auftraggeber zuzuarbeiten.


Angesichts der historisch brisanten Situation Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich im Versagen von Kirche und Staat, wie sie mit der französischen Revolution offenkundig wurde und sich wie ein roter Faden in Europa vor allem mit dem I. Weltkrieg und dem Aufkommen der Diktaturen in Europa fortsetzte, erscheint die Ablehnung der Funktion der Künste in diesen Systemen folgerichtig. Den Dienst verweigern bedeutet dann, sich dem Unikat, der Idee des Genies und der Idealisierung von Ideen der Auftraggeber zu entziehen. Nonsens, Serialität und Ready Made, wie sie DADA proklamierten und wofür Duchamp und Benjamin einstanden, stemmen sich vehement gegen die Vereinnahmung der Künste und des Publikums. Konzeptkunst und mit ihr Fluxus und Aktionskunst knüpfen daran an. Angesichts der Möglichkeiten der Künste mittels der Neuen Medien heute den verschrobensten Ideen aller Art zu dienen, lässt sich schlussfolgernd nur sagen: Es lebe DADA!

 

Anmerkung: Dieser Zusammenhang zwischen DADA und Benjamin wurde von der Autorin erstmals in ihrem Beitrag für ein Diplomabschlussprojekt von Studierenden der Bauhaus-Universität 2010 in Benjamin revisted. Das Kunstwerk im Zeitalter der digitalen Medien (upload per klick) vorgestellt. Der Beitrag ist Willi Winkler bekannt.


Foto: DADAisten Marcel Duchamp und Francis Picabia, L.H.O.O.Q. ursprünglich publiziert in 391, n. 12,

March 1920, Copyright: https://en.wikipedia.org/wiki


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